Sie wollte niemandem zur Last fallen

Sie wollte niemandem zur Last fallen – schon zu Lebzeiten nicht und erst recht nicht nach dem Tod. Sie wollte niemandem Mühe machen. Ihre größte Sorge war, jemand könnte stöhnen, weil er oder sie ihr Grab zu pflegen hätte. Die Kinder haben ihr eigenes Leben und sollen nicht noch das Grab der Mutter und Oma pflegen müssen, den Stein setzen, im Frühjahr die Stiefmütterchen pflanzen und im Winter die Tannenzweige auf das Grab legen. Soll sich doch lieber der Rasen schließen, und keiner kennt ihre letzte Ruhestätte. Auf fast allen Friedhöfen kann man sich anonym bestatten lassen. Immer wieder werden die Friedhofsmitarbeiter/innen gebeten, man möge doch helfen, das Grab zu finden. Das aber geht nicht mehr, wenn man sich einmal für diese Bestattungsform entschieden hat. Und schaut man sich um, dann kann man sehen, dass auf allen anonymen Grabfeldern dennoch Blumen und kleine Erinnerungsgegenstände abgelegt werden. Es liegen Blumensträuße dort, Gebinde und Kränze. Mitten in den Blumen fand ich einen Brief, kariertes Papier, beschrieben mit Bleistift in Kinderschrift, und bunt bemalt mit Herzen und mit Wolken, aus denen es regnet. „Für meine liebe Oma“, steht da „ich werde dich nie vergessen und immer im Herzen lieben. Deine Jeanette.“

Namenlose Grabstätte

Das Liebeszeichen der Enkelin und der bittere Wunsch nach Anonymität – ein schmerzhafter Widerspruch. Hat die Anhänglichkeit des Kindes das Herz der Großmutter nie erreicht? Unauffindbar, anonym, entsorgt. Gottseidank hat Jeanette beharrlich gesucht und ihren Liebesbrief trotzdem „zugestellt“. Wie dankbar wäre sie für ein Grab gewesen, auf dem der Name der Oma steht. Ein Grab ist ein Ort, zu dem die Erinnerung sich auf den Weg machen kann, wo die Liebe und die Trauer etwas anzusehen finden. Die Trauer braucht einen festen Ort, an den sie zurückgehen kann. Es ist ein urmenschliches Bedürfnis, von seinen Mitmenschen geliebt und geachtet zu werden. Jede/r möchte im Herzen seiner Nächsten und Liebsten einen kleinen, aber festen Platz. Es ist ein großer Selbstbetrug und gegenüber unseren Angehörigen eine Ungerechtigkeit zu glauben, dass nach dem Tod die emotionale Sehnsucht und Verbundenheit plötzlich aufhört. Viele Angehörige vermissen die Atmosphäre und Möglichkeit, ungestört an der Grabstätte ein inneres Gespräch, eine stumme Zwiesprache mit ihrem Verstorbenen zu führen. „In seine Hand hat Gott meinen Namen geschrieben“, heißt es in der Bibel. So wie mein Name in den Stein, so ist er auch in Gottes Hand geschrieben. Deshalb soll man sich nicht nach anonymer Bestattung sehnen.

Stiefmütterchen am Grab

Auf unserem Friedhof gibt es schöne Grabfelder, auf denen Angehörige sich nicht um die Grabpflege kümmern müssen. Es sind Rasengräber, die vom Friedhof gepflegt werden – das heißt, es wird regelmäßig Rasen gemäht. Und trotzdem hat jeder Tote seinen erkennbaren Platz: Es liegt ein flacher „Kissenstein“ auf dem Grab, der Name ist eingraviert. Angehörige können hier stille Zwiesprache halten, haben aber keine Last mit der Pflege. Vielleicht denken Sie einmal daran, wenn Sie den Wunsch haben, anonym beerdigt zu werden. Daneben haben wir ein halbanonymes Feld auf dem alten Friedhof, auch dem es möglich ist, mit einer Namensplakette an den Verstorbenen zu erinnern. Rauben Sie Ihren Angehörigen, Ihren Nachbarn und Ihren Freunden nicht den Ort des Erinnerns und der Trauer. So wie der Name in den Stein, so ist er auch in Gottes Hand geschrieben; er hat uns bei unserem Namen gerufen und wir sind sein. Das soll heißen: Ich bin in Ewigkeit nicht verloren, und ich bin in Ewigkeit nicht vergessen.

Gefunden in https://www.friedhof-bergstedt.de